Bundesverfassungsgericht kippt Vorratsdatenspeicherung nach 2 Jahren Unrecht – Versuch einer kritischen Erörterung des Urteils unter Berücksichtigung der gesamtpolitischen Situation in der BRD
1. Abstract
Seit Januar 2008 wurden bis heute im Rahmen der sog. Vorratsdatenspeicherung (VDS) besagte Vorratsdaten ohne Verdacht für jeweils 6 Monate präventiv gespeichert: Verbindungsdaten von Handy und Telefon, Interneteinwahl, SMS- und eMail-Versand. Daten, die ungeahnte und höchstproblematische Rückschlüsse in die Privatsphäre eines jeden erlauben (vgl. 2.).
Seit heute morgen das BVerfG sein lang erwartetes Urteil gesprochen hat, ist damit vorerst Schluss. Die VDS war – wie viele von uns bereits geahnt haben – aus vielerlei Hinsicht absolut grundgesetzwidrig und damit illegal. Ab heute müssen alle Daten umgehend gelöscht werden. Es wird vorerst nicht mehr gespeichert, da diese Rechtsgrundlage außer Kraft gesetzt wurde. Das ist zu begrüßen.
Wo vielerorts momentan jedoch Datenschützer, Bürgerrechtler, sog. Bürgerrechtsparteien und an sich an Freiheit orientierte Menschen jubeln und feiern, sollte man das Urteil nüchtern und kritisch betrachten - und nicht etwa als ein „Sieg gegen den Überwachungsstaat“ (padeluun im Interview mit Herrn Hagen vom ZDF).
Eine an sich problematische Speicherung von Vorratsdaten ist nicht per se verboten - sondern sogar erlaubt - worden.
Der Gesetzgeber wird es erneut versuchen, eine solche auf den Weg zu bringen.
Es ist nicht sicher, ob eine weitere Ausarbeitung grundgesetzkonform sein wird. Und wenn nicht, geht das verdammte Spiel von vorne los. Die Schuldigen werden wie immer nicht belangt.
Und viele weitere den Überwachungsstaat sukzessive perfektionierende Gesetze sind bereits umgesetzt oder stehen in den Startlöchern.
10 Schritte in die falsche und einer in die richtige Richtung?
Grundsätzliche Kritiken sind jetzt gefragt.
2. Allg. Problematik dieses Gesetzes
Um die Brisanz der VDS aufzuzeigen, sind hier noch einmal deren Gefahren – und so auch Argumente gegen dieses 2 Jahre anhaltende Unrecht – angeführt.
Von weiteren Kritiken rund um Datensicherheit (Speicherung, Sicherung, Verfügung) und anderem soll hier – wegen der relevanteren allgemeinen Problematik – bewusst Abstand genommen werden.
- Eine so massive Sammlung von personenbezogenen Daten sämtlicher elektronischer Kommunikationsmedien auf Vorrat ohne Verdacht ist mit der Aufhebung der Unschuldsvermutung gleichzusetzen. Angemessene Formen der Überwachung im Rahmen von Ermittlungen etwa sind usus in der Strafverfolgung wenn ein onkreter Verdacht auf eine Straftat besteht. Ohne einen Verdacht sind sie nicht legitim! Sie stellen eine ganze Bevölkerung unter Generalverdacht. Diese hat allen Grund vor dem Staat Angst zu haben. Und nicht umgekehrt, wie es idealerweise sein sollte.
- Brisanz dieser Daten:
Mit diesen Daten kann man mit entsprechender Software ganze Netzwerke sozialer Beziehungen (Freundeskreise, Familie, Arbeitskontakte...) überblicken. Niemanden geht das etwas an. Vor allem nicht dann wenn Dritte mitüberwacht werden – was dann unvermeidlich ist.
Ebenso kann man mit den Handydaten konkrete Bewegungsprofile von jedem anfertigen. Damit soll statistisch im Schnitt bis zu 98% der Mobilität der Menschen vorhersagbar sein (http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32119/1.html). Und wegen der Regelmäßigkeit sozialer Interaktionen (Aufstehen, Arbeitsanfahrt, Arbeit, Heimfahrt, etc.) oft auch die Hintergründe solcher Mobilität.
- Verbindungsdaten und Kommunikationsinhalte:
Auch wenn offiziell nicht der Inhalt von Kommunikationen im Fokus steht, so ist genau dieser teils ersichtlich oder zu erahnen. Erwähnte Bewegungsprofile (s.o.) und auch einzelne Verbindungen machen dies möglich. Rufe ich bei der Seelsorge, Aids- oder Drogenberatung oder sonst wo an, schicke ich selbigen eine Mail, dann ist klar mit wem ich Kontakt habe und um was es gehen könnte. Verweile ich länger an einem Ort, so sind weitere Schlussfolgerungen möglich. Etwa Arzt- oder Krankenhausaufenthalte, Demobesuche, Reisen und anderes.
Betreffzeilen von eMails und Teile von SMS-Inhalten sind Gerüchten zufolge technisch auch nicht wirklich von der reinen Verbindung zu trennen.
3. Zum Urteil konkret: Darstellung und Einschätzung
Das BverfG – als höchstes deutsches Gericht – hat heute gegen 10 Uhr das im Allgemeinen als Vorratsdatenspeicherung bezeichnete Gesetz als Ganzes für „nichtig“, da grundgesetzwidrig, erklärt. Dieses stellte ein Verstoß gegen das Fernmeldegeheimnis (GG Art. 10, Abs. 1) und die Verhältnismäßigkeit dar. Bei der VDS handelt es sich somit lt. Gericht "um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt". Die Richter sprechen dabei von einem "besonders schweren Eingriff in das Fernmeldegeheimnis" , der [Fehler im Original korrigiert] Rückschlüsse "bis in die Privatsphäre" ermögliche. Eine sehr klare Aussage!
Ferner ist die Sicherheit der Daten nicht gewährleistet sowie deren Verwendungszweck zu intransparent. Eine Nennung konkreter Straftaten als Anlass, die Daten zu nutzen, fehle. Das Gesetz ist „somit nichtig“ und alle gesammelten Daten „unverzüglich zu löschen“. Klare und zu begrüßende Worte des Gerichts.
Dennoch ist diese aktuelle Rechtssprechung aus Sicht des Grundgesetzes durchaus kritisch zu betrachten. Die an sich problematische Erhebung von Vorratsdaten (siehe 2.) ist damit prinzipiell möglich, was ein Novum darstellt.
Dieses aber nur unter strengsten Vorgaben zu Sicherheit der Daten und Transparenz für die Verwendung:
- Regelung der sicheren Lagerung und „anspruchsvolle Verschlüsselung“ der Daten
- "Grundsätzliches Übermittlungsverbot" für bestimmte Institutionen wie etwa die Seelsorge
- Regelung der Abrufgründe: Also wer bei welchen konkreten Straftaten diese abrufen darf.
So hat das BVerfG im vergangen Jahr bereits – nachdem das Land Bayern die Vorratsdaten „auch zur Gefahrenabwehr und zur Erfüllung der Aufgaben des Verfassungsschutzes“ einsetzen wollte – eine einstweilige Verfügung erlassen. Dank dieser war fortan eine Nutzung der Vorratsdaten nur auf begründeten Verdacht auf „schwere Straftaten“* hin beschränkt. Und das wenn mit anderen Mitteln nur wesentlich erschwert eine Verfolgung möglich ist.
*Konkrete Gefahren für Leib und Leben, Gefahren für den Bestand des Bundes oder eines Bundeslandes oder bei einer drohenden "gemeinen Gefahr"
Was waren da freiheitsfeindliche Politiker wie Schäuble erzürnt über das hohe Gericht...
Eine vage Hoffnung, VDSen an sich – im Rahmen des vorherrschenden Parlamentarismus – als Ganzes zu verhindern liegt etwa in der EU-Politik. Da die VDS - in etwas weniger problematischer Ausgestaltung als in der BRD - eine EU-Gesetzgebung ist, kann diese dort auf EU-Ebene verhindert werden. Der aktuelle Trend in Brüssel sei angeblich der weg von solchen Gesetzen . Da nun mit dem Lissabonvertrag mehr kritischer Einfluss möglich sei und ein Grundrecht auf Datenschutz existieren soll, wird im Herbst die EU-Richtlinie zur VDS geprüft - und dabei auch ob eine solche Speicherung überhaupt gewollt ist.
Daneben könnte sich die BRD auch im Alleingang – wie etwa Rumänien, Schweden und Österreich – gegen die EU-Richtlinie wenden und die VDS so selbst verhindern. Bei soviel organisierter Verfassungsfeindlichkeit wie in unserer Politik ist auch das jedoch eher unwahrscheinlich.
Fazit: Es ist also zweierlei ersichtlich:
1. Ein Zuspruch des Gerichts an weite Teile der Bürgerrechtsbewegung durch sehr klare Aussagen zum Gesetz und den Gesetzgebern.
2. Aber leider auch ein Einknicken zur grundsätzlichen Frage nach VDS im Allgemeinen. Dies ist - vor allem im Hinblick auf die erschreckende Gesamtsituation - definitiv als Niederlage zu werten!
Freiheitsverachtende Menschen wie Bosbach, Ziercke, Schäuble, Zypries und ein Großteil der - allem Anschein nach weit von den Ideen des Grundgesetzes entfernten - Bundestags-Abgeordneten haben trotz massiven Protesten und jurist. Warnungen sowie dem zu erwartenden aktuellen Verbot der VDS für selbiges gestimmt (Schuldige: http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Verantwortliche.) Mit Terrorhysterie, Lügen und Manipulation haben sie ihre kranken Phantasien auch hier Jahre lang durchgesetzt.
Dass sie es mit einer Neuformulierung wieder versuchen werden, ist zu erwarten. Dann geht das verdammte Spiel von vorne los. Und Unrecht setzt sich womöglich ungestraft fort.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt dabei, dass Regierungen mehr oder minder austauschbar sind. Besonders Union und SPD haben keine Hemmungen jedwede freiheitliche Grundsubstanz zu schmälern. Aber auch als Bürgerrechtsparteien berühmte Parteien wie Grüne oder FDP knicken fast immer dann ein, wenn sie selbst mitregieren. (vgl. http://www.daten-speicherung.de/index.php/ueberwachungsgesetze/)
Ein Blick in die Zukunft lässt aufgrund des immer rapideren Schwundes an Grundrechten – und sich potentiell zuspitzenden Krisen – nichts gutes erwarten.
Die „organisierte Verfassungsfeindlichkeit“ ist ungehemmt am Werke, auch wenn Gerichte alle Nase lang illegale Gesetze nach längerer Anwendung teils oder ganz kippen dürfen (BKA-Gesetz, neue Versammlungsgesetze, automatisierter Abgleich von Kfz-Kennzeichen etc.).
Noch problematischer: Etliche neue und ebenfalls schlimme Gesetze (ELENA, ACTA, SWIFT, Hartz IV, Internetzensur, Nacktsanner...) sind bereits umgesetzt worden oder sollen dies noch.
Wenn, ja wenn sich tatsächlich etwas zum Positiven ändern wird, dann NUR durch eine breite und entschlossene Bewegung, die sich nicht vereinnahmen lässt, sondern selbstbewusst mit allen nötigen Mitteln aufbegehrt – und das Schlimmste selbst verhindert.Auch wenn man oft den Eindruck hat, dass wenig Problembewusstsein in der Gesellschaft vorherrscht, so lassen aktuelle Studien (z.B. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/infas-umfrage.pdf) anderes erwarten. Nämlich grundsätzliche Skepsis und Offenheit für Kritik. Offensichtlich hat sich hier bereits einiges getan.
Vorschläge:
1. Radikalere Forderungen sollten als Artikulation von Interessen weiterhin gestellt werden:
ein Moratorium für alle weiteren Überwachungsgesetze sowie die unabhängige Prüfung aller Überwachungsgesetze. Anschließend eine Rücknahme problematischer Gesetze.
2. Ziviler Ungehorsam gegen derartige Gesetze und Überwachung durch Handytauschbörsen, Anonymiserungsdienste im WWW, Nutzen von auch zukünftig nicht-speichernden Internetprovidern und Maildiensten, Verweigerung und Unschädlichmachen von RFID-Chips, Verschlüsselung von eMails, Verdecken von Kameras u.v.m.
(einige konkrete Möglichkeiten: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/56/132/, http://akvorratbamberg.twoday.net/stories/anstiftung-zur-verschluesselung/)
3. Erkämpfen von demokratischer Mitbestimmung für alle statt parlamentarischer Fremdverwaltung durch Parteien und (andere) Unternehmen.
An dieser Stelle gebührt allen Kämpfern gegen die VDS und Überwachung allgemein Dank:
- Herrn Patrick Breyer und Herrn Meinhard Starostik für die Ausarbeitung und Verwaltung der Verfassungsbeschwerde des AK Vorrat
- allen anderen in welcher Form auch immer Aktiven des AK Vorrat
- mühselig überzeugenden Anhängern diverser Parteien
- CCC-Aktivisten
- Anonymisierungsdienstleistern
- Demonstranten gegen den Überwachungswahn
- Teilnehmern an Petitionen, Unterschriftenaktionen und der größten Verfassungsbeschwerde aller Zeiten
- und allen anderen kritisch-aktiven Geistern.
Verwendete Quellen (die nicht im Text genannt werden):
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/2373108_Massenspeicherung-ist-verfassungswidrig.html
http://www.heise.de/newsticker/meldung/Karlsruhe-kippt-Vorratsdatenspeicherung-943695.html
http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,681122,00.html
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,588866,00.html)
http://www.tagesschau.de/inland/bundesverfassungsgericht144.html
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/355/55/lang,de/
TV-Liveübertragung: „Vorratsdatenspeicherung“ mit Ulrich Hagen (ZDF) und Prof. Michael Brenner (Uni Jena). 02.03.2010, 9:50 -10.30, Phoenix.